Es gibt immer einen Weg
Wir finden ihn

NEBEL

Sie verstand es, mit einem Auto umzugehen. Es war fast, als würde sie schweben. Wenn sie davon absah, dass sie wirklich hundert Prozent ihrer Aufmerksamkeit auf die Nebelwand vor sich richten musste, weil jederzeit ein langsamer fahrendes Fahrzeug vor ihr auftauchen könnte, würde sie die Fahrt durch den Nebel sogar genießen. Ganz entspannt im Anders und Ewig. Weit weg von schnöden Dingen wie Politik und Geldsorgen. Von Kohl und Kohle quasi. Aber auch von Uniform und Ausgangszeiten. Einfach dahinschweben. Fast wünschte sie, diese Fahrt würde ewig so weitergehen.

Aber leider konnte sie eben nicht davon absehen, dass dieser Rauschzustand auch äußerst gefährlich war, weil jederzeit vor ihr etwas auftauchen konnte, was schnelle Reaktionen abforderte. Erst gestern hatte eine Bekannte erzählt, dass auf der Autobahn bei Dresden nachts ein tödlicher Unfall passiert sei. Ein argloser Motorradfahrer war auf einen Russen-Lkw gefahren, der da wegen einer Panne bei Neumond unbeleuchtet mitten auf der Fahrbahn stand. Die russische Armee war dafür bekannt, dass sie sich wegen solcher Kleinigkeiten wie Beleuchtung wenig Sorgen machte. „Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“. Hatte Lenin seinerzeit getönt. Fahrzeuge in anderen Ländern fielen offenbar nicht unter dieses Programm. Selbst wenn sie beleuchtet waren, waren die Rücklichter dieser Lkws dermaßen winzig, dass man sie vielleicht dreizehn Meter vorher gerade noch so erkennen konnte. Bei Nacht. Bei Nebel war es noch deutlich schwieriger. Auch bei Tag.

Statt mit erwähnenswerten äußeren Reizen nur mit diesem Weiß in Grau versorgt, flimmerten die Netzhäute dann ohnehin ihr eigenes Beleuchtungsprogramm ab. Das war dann wie ein Suchbild: Welcher der winzigen roten Pünktchen war nicht ein Produkt der eigenen Einbildung?

Sie verstand es, schnell zu reagieren. Deshalb traute sie sich trotz des Nebels, einigermaßen zügig zu fahren. Die Tachonadel ihres 311er Wartburg zitterte um die 60 herum. Schneller zu fahren wäre wohl Leichtsinn. Langsamer zu fahren jedoch Feigheit. Zumindest ein Bleiben unter den Möglichkeiten. Um die Gefahr eines Auffahrunfalls zu mindern, nutzte Helene die Überholspur. Die Gefahr, dass jemand Schnelleres von hinten aufschloss, war deutlich geringer, als die Gefahr, einem dahinschleichenden Trabbi-Fahrer mit Hut auf dem Kopf und Wackel-Dackel plus obligater Klo-Rolle im Häkel-Überzug auf der Heckablage direkt auf selbige draufzuknallen.

Sie verstand es, gut zu organisieren. Das war auch notwendig.

Helene feierte heute ihren 27. Geburtstag. Und zur Feier des Tages fuhr sie also nun durch den Nebel nach Neuseddin.

Denn offenbar verstand sie es auch, zu feiern. Wenngleich nicht ganz im üblichen Sinn. Reingefeiert hatten sie gestern. Es war Helene nicht einmal ansatzweise in den Sinn gekommen, ihre Geburtstagsfeier abzusagen, nur weil irgendwelche Nicht-ihre-Vorgesetzte meinten, ihrem Mann Schuppi den einen winzigen Urlaub zu verweigern. Der Geburtstag der Ehefrau wäre kein ausreichender Grund. Bestenfalls ihr Ableben hätte man gelten lassen. Das hatte man ihrem Mann in der Kaserne, mitfühlend wie man war, genau so zu verstehen gegeben. Sie spürte solchen Formulierungen regelrecht ab, wie sehr in diesem Staat und seiner Armee der Mensch im Mittelpunkt stand. Im Mittelpunkt allen Drängelns und Gängelns, aller Schikanen, aller Bürokratie und aller anderen Ekligkeiten, die Menschen in und außerhalb ihrer Freizeit ihren Mitmenschen anzutun vermochten, wenn man ihnen nur ein ausreichendes Quäntchen Macht dazu in die Hand gab. Wie man das rechtfertigte, war dann egal. Hier eben mit der Verteidigung der Errungenschaften des Sozialismus.

Helene hatte nichts gegen Sozialismus. Ganz im Gegenteil. Aber ohne innere Korrektur, ohne inneren Maßstab, ohne inneren Leisten, über den man das eigene Handeln brechen konnte, war wohl jede Gesellschaftsordnung potentiell menschenfeindlich. Für Helene war der Glaube an Gott dieser innere Maßstab. Der Leisten, dem sie ihr Denken und Handeln anpasste, wie der Schuster seinen Schuh. Sozialismus und Glaube an Gott waren für sie keine Gegensätze. Dieser Sozialismus hier in der DDR und in ihrer Kristallkugel, der NVA, aber wohl schon. Das war eine derart lustlose Truppe, dass jede Fröhlichkeit, jede Feier per se schon ein subversiver Akt gegen dieses System war. Genau deshalb war es auch wichtig, zu feiern.

Der Plan war folgender gewesen: Freitag Abend wäre Schuppi mit dem Zug nach Hause gekommen. Samstag früh hätten sie gemeinsam die frisch angelieferten Kohlen in den Keller geschippt, um sich danach, frisch gereinigt, der Vorbereitung des Abends zu widmen. Gemeinsames Reinfeiern in den Geburtstag. Nächsten Tag ausschlafen und dann vielleicht noch einen ausgedehnten Spaziergang anschließen, bevor sie dann Schuppi in die Kaserne kutschiert hätte.

Tatsächlich war dann alles anders gekommen. Oder besser: Gekommen worden. Denn nicht das Schicksal spielte hier den ewigen Querulanten, sondern ein paar Bonzen spielten Schicksal.

Schuppi kam nicht. Dafür kamen die Kohlen, was ja im planwirtschaftlich organisierten Realsozialismus auch nicht unbedingt zwingend war.

Helene hatte Freunde und Nachbarn zusammengetrommelt. Gemeinsam hatte man die Briketts und den immer höher werdenden Grus-Anteil verfrachtet, die Badewanne der kleinen Wohnung anschließend arg strapaziert und dann nach einigen eiligen Vorbereitungen sofort das Feiern angefangen. Denn ob es auch regnete oder schneite, ob die DDR ihren Mann einsperrte oder laufen ließ – Helene und ihre Freunde ließen sich die Feierlaune schon aus Prinzip nicht nehmen. Und wenn die Stimmen dann zu Gitarre, Löffel-Perkussion und einer etwas löchrigen Harmonika die fälligen Lieder aus dem Zupfgeigen-Hansel zum Besten gaben, war „Die Gedanken sind frei...“ nicht nur einfach so ein Lied wie jedes andere, sondern ein laut vorgetragenes Bekenntnis.

Nicht jeder aus dem Freundes- und Bekanntenkreis rechnete sich zum christlichen Zirkel, dem Schuppi und Helene angehörten. Aber in solchen Dingen wie Kohle-Schippen und Singen war eine Solidarität zu spüren, die darüber hinaus ging. „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“. Psalm achtzehn. Vers dreißig. Das galt ein bisschen auch für die eigene Denkweise, die bei aller Frömmigkeit immer mal in der Versuchung stand, sich ein wenig nach außen abzugrenzen.

Helene kannte solche Versuchungen und hatte sie bei anderen in ihrem Bekanntenkreis auch unangenehm erlebt. Aber sie selbst, Helene, ließ sich nicht eingrenzen. Sie war ein aktiver, lebensbejahender Mensch und sprang tagtäglich über Mauern. Deshalb war dieser Freundeskreis auch so stabil.

Sie wusste, dass viele der Kameraden ihres Mannes unter dem Druck ihrer Frauen und Familien standen, möglichst oft nach Hause zu kommen. Und sie wusste, dass genau dieser Druck dazu führte, dass sie dort, wo sie jetzt waren, ihr Leben eigentlich nicht leben konnten. Deshalb hatte sie ihrem Schuppi klar gemacht, dass sie das nicht erwartete. Sie wollte und würde auch allein klarkommen. Auch um ihm diesen Druck von der Heimatfront wegzunehmen. Im Gegenzug aber lebte auch sie ihr Leben und vegetierte nicht als Strohwitwe mit Trauerflor dahin. Sie hatte Geburtstag! Also wurde gefeiert, auch wenn Schuppi verhindert war.

Bis kurz vor vier hatten sie es krachen lassen. Dann waren die Gäste nach Hause gegangen. Wirklich gegangen. Man hatte keine Probleme damit, die paar Kilometer bis in die Innenstadt, wo die meisten wohnten, zu Fuß zurückzulegen. Helene hatte sich wohl gefühlt.

Anschließend hatte sie sich ans Aufräumen gemacht. Abwaschen, kehren, wischen. Das Bad reinigen. Solche Sachen halt. Eineinhalb Stunden Schlaf waren auch noch abgefallen.

Und jetzt saß sie also in ihrem 311er und fuhr durch den Nebel nach Neuseddin. Sie würde es sich nicht nehmen lassen, zu ihrem Geburtstag auch ein paar Spazierrunden mit Schuppi durch die Kiefernwälder zu drehen. Sie hatte ein Recht auf ihren Mann!

Hoffentlich schlief sie dann auf der Heimfahrt nicht am Steuer ein.