„Wenn wir nicht zu unseren Wurzeln zurückfinden, können wir unser Christentum vergessen!“
Der Mann aus Tanne äußerte sich eigentlich relativ selten zu seinen Einstellungen, aber im Gespräch mit Kiefer hatte er sich zu dieser allgemeinen Aussage durchgerungen. Seiner Meinung brachte es nichts, sich im politischen Klein-Klein zu verzetteln. Vielmehr kam es auf die rechte Grundeinstellung des Menschen gegenüber Gott an. Politische und philosophische Kategorien fußten doch eher auf der griechischen Tradition, die mit der jüdisch-christlichen in einem Wettstreit um den Kopf und das Herz der Menschen stünde.
Kiefer dagegen hatte die Meinung vertreten, dass das eine mit dem anderen zu eng verbunden sei, um es gegeneinander ausspielen zu können.
An diesem Punkt ihres Gespräches angelangt, kam prompt ihr Auftritt:
Sie. Die Wurzel.
Als hätte sie der Mann aus Tanne durch seine Äußerung beschworen, ragte ihr erster, durchaus beachtlicher, Ausläufer in jenen Abschnitt hinein, den Kiefer auszuheben hatte.
Beziehungsweise auch nicht mehr auszuheben hatte.
Denn es gab durchaus Abweichungen von der genormten Tagesleistung, jenen 4,73 m³, die der vorgesetzte Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, ausgerechnet hatte, und die auf ein Grabenstück von 2 Metern Länge hinausliefen. Traten nämlich exorbitante Hindernisse in den Weg allen Grabens, so war der jeweils vorgesetzte Bausoldat berechtigt, die zu erbringende Tagesleistung des derart behinderten Gräbers um 20 cm Länge zu reduzieren. Beispielgebend für ein solches Hindernis wurden Wurzeln angeführt, die vom vorgesetzten Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, mit dem Wort „Stubben“ bedacht wurden – ungeachtet der Tatsache, dass nur ein Bruchteil der inkriminierten hölzernen Objekte noch über einen oberirdischen Part verfügte, der die Bezeichnung „Stubben“ mit Redlichkeit verdiente.
Zudem war in der letzten Woche eine organisatorische Änderung verfügt worden: Um die matte Arbeitsleistung aufzubessern, war seither in täglichem Wechsel je ein Bausoldat als Aufseher über alle anderen gesetzt. Aus Batzensicht sollte so offenbar der Gefrierpunkt weiter an die Außenseite jener Mauer des Widerstands verlegt werden, die aus Worten, Taten und Blicken renitenter Gestalten wie Kiefer bestand. Respektive aus deren Gegenteil: Nichtstun. Schweigen. Weggucken. Letzteres äußerte sich z.B. darin, dass vor ein paar Wochen ein Grenzstein einfach mit weggebuddelt worden war und nun mit Aufwand wieder verlegt und eingemessen werden musste.
Gestern war Erasmus der Graben-Häuptling gewesen und hatte sich deshalb das Käppi voller scheinbaren Stolzes mit einer Krähenfeder verziert. Heute jedoch hatte der Mann aus Tanne diese Funktion inne. Der verzichtete, nicht zuletzt aus den oben genannten Gründen, auf derartige Extras.
Doch entband ihn das Fehlen äußerer Hoheits-Zeichen nicht von der inneren Verantwortung, nunmehr die Entscheidung treffen zu müssen, ob Kiefer zwei Stunden vor Feierabend in den Genuss der reduzierenden Wurzel-Formel kommen solle. Da Kiefer am Ende der heutigen Gräber-Kette arbeitete, konnte man wohl schnell Klarheit schaffen.
Der Mann aus Tanne holte den Zollstock und maß nach. Die Wurzel ragte genau 18 cm in Kiefers heutigen Abschnitt hinein. Den Rest würde man morgen angehen müssen.
„OK. Dann kommst du heute in den Genuss des Wurzel-Bonus und musst dein Grabenstück eben nur auf 1,80 m Länge ausheben.“
Kiefer fand diese Nachricht angenehm. War er dann heute doch schon fast eine Stunde eher fertig.
Andererseits …
Ja, andererseits hatte er dann in diesem 1,80-Meter-Stück keine Hindernisse zu bewältigen gehabt, die den Wurzel-Bonus gerechtfertigt hätten. Er wolle, so argumentierte er daher, sich doch nicht einen ungerechtfertigten Vorteil erschleichen. „Ja, wo wären wir denn!“
Der Mann aus Tanne grinste ob dieser gespielten Empörung und wollte die Sache auf sich beruhen lassen. Nicht so Kiefer, der das humoristische Element, dass der Situation inne wohnte, auszukosten gedachte. Da der Mann aus Tanne sich nicht bereit fand, die Frage dem vorgesetzten Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, vorzulegen, kam man überein, dass sich Kiefer selbst in dessen Büro, das sich einige hundert Meter weiter im Kasernenkomplex befand, verfügen möge.
Gedacht – gesagt, gesagt – getan. Zehn Minuten später klopfte Kiefer beim vorgesetzten Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, und simulierte Meldung und „Männchen“. Dann trug er sein Anliegen vor: „Genosse Leutnant, bei uns ist folgendes Problem aufgetaucht. Kurz vor Ende meines Grabenstücks, ragt eine kapitale Wurzel herein. Ich würde diese heute nicht mehr zu entfernen schaffen und bräuchte deshalb nur Einmeterachzig auszuheben. Hebe ich aber nur die Einsachtzig aus, komme ich nicht bis an die Wurzel heran, so dass dann die Reduktion meiner zu erbringenden Arbeitsleistung nicht gerechtfertigt wäre. Wie sollen wir in diesem Fall verfahren?“
Der vorgesetzte Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, sah ihn in einer Mischung aus Unkonzentriertheit und Unverständnis an.
„Wie bitte?“
Kiefer beschränkte sich auf einfachere Sätze: „Folgendes Problem: Kurz vor Ende meines Grabenstücks ragt eine kapitale Wurzel herein. Deshalb müsste ich nur Einmeterachzig ausheben. Hebe ich aber nur die Einsachtzig aus, komme ich nicht bis an die Wurzel heran. Dann müsste ich also wieder zwei Meter ausheben. Hebe ich aber zwei Meter aus, ist die Wurzel wieder drin.“
„Wie kann das sein, dass die Wurzel mal drin ist und mal draußen?“
Jetzt war es an Kiefer, verwundert dreinzuschauen.
Er trat vor und wollte das Problem mit gestikulierender Unterstützung auf dem Schreibtisch veranschaulichen.
„Treten Sie sofort zurück auf Ihrem Platz!“
Es gab offenbar Wichtigeres als Grammatik und Lösungsstrategien. Kiefer stand wieder still und formulierte rein verbal ein drittes Mal.
„Das kann ich mir hier im Büro nicht vorstellen. Gehen Sie zurück an Ihren Arbeitsplatz! Ich komme gleich nach und mache mir vor Ort ein Bild der Gesamtproblematik.“
Der vorgesetzte Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, fühlte sich gut. Er war ein Mann der Tat – kein Schreibtischhengst. Vor Ort ließen sich Probleme immer viel besser klären. Da konnte man sich selbst ein Bild der Lage machen und war nicht auf die unbeholfene Darstellung von Untergebenen angewiesen.
Nur zehn Minuten nach Kiefer traf er denn auch schon auf der Baustelle ein. Wie er vermutet hatte: Hier vor Ort, konnte ihm der Mann aus Tanne die Problematik nachvollziehbar erklären. Der vorgesetzte Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, scheute sich nicht, in den Graben zu steigen und die Wurzel selbst in Augenschein zu nehmen. Nur wenn man den Dingen Aug in Auge gegenüberstand, konnte man sie erfassen und zur Problemlösung beitragen. Zwischendurch hatte er kurz das Gefühl, dass diese Bausoldaten, insbesondere dieser Kiefer, ihn reinlegen wollten. Er konnte aber in dessen Gesichtszügen nichts entdecken, was auf Hintertücke schließen ließ. Der Mann blickte ehrlich und schien sich über die Lösung des Problems selbst Gedanken zu machen. Doch sicher war sicher. Der vorgesetzte Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, würde also die Problematik seinem Vorgesetzten vorlegen.
„Ich gehe jetzt ins Büro zurück und werde ein paar Telefonate erledigen. Die Problematik kann hier vor Ort nicht vollumfänglich erfasst werden.“
...
Major Wenigel atmete tief durch. War er denn nur von Idioten umgeben? Soeben hatte ihn der untergebene Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, am Telefon das Problem mit der Wurzel geschildert. Natürlich war ihm sofort klar gewesen, dass dieser unverdiente Genosse von den Bausoldaten vorgeführt wurde. Andererseits: Es geschah ihm durchaus Recht. Leute wie der waren die Wurzel aller Probleme.
Wenigel musste an das mathematische Paradox von Achilles und der Schildkröte denken: Beide unternehmen diesen Wettlauf. Weil er schneller ist, gewährt Achill der Kröte einen Vorsprung. Bevor er sie nun aber überholen kann, muss er zunächst den Vorsprung einholen. Währenddessen hat die Kröte aber einen neuen, nunmehr deutlich kleineren Vorsprung zurückgelegt. Den muss Achill auch erst wieder einholen. Hat er das geschafft, hat die Schildkröte indessen wieder einen kleinen Vorsprung. Und so weiter. Die Geschichte endete nie.
Gut – das hier war ein wenig anders gelagert, hatte aber mit der Achilles-Problematik gemein, dass sich mit der jeweiligen Sicht auf die Situation auch das Ergebnis änderte und eine Lösung schwer möglich schien.
Einer seiner eigenen Ausbilder, der seine erste Karriere noch bei der Wehrmacht absolviert hatte, hatte Wenigel auf solche Fragestellungen aufmerksam gemacht. „Diese Scheinalternativen treten ständig auf. Sie müssen die Fragestellung lösen, indem Sie eine kurze, schlimmstenfalls unbegründete Entscheidung treffen! Falsch ist einzig: Keine Entscheidung zu treffen. Im Fall Achill & Schildkröte empfehle ich: Erst auf Achill zielen, dann auf die Schildkröte! Sie können es freilich auch andersherum halten. Hauptsache, Sie entscheiden sich!“
Wenigel hatte dem untergebenen Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, das Prinzip erklären wollen, sich aber nach wenigen Worten selbst unterbrochen. Es hatte keinen Sinn mit diesen Leuten. Deshalb hatte er die Entscheidung durch den Telefonhörer gebellt, die hier als einzige Sinn machte: Bleibt bei 1,80! Genau so tief wünschte er den untergebenen Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, und seinesgleichen frostfrei unter die Erde gepackt.
Sie machten die Sache der NVA doch nur lächerlich vor diesen Bausoldaten, die er lieber auf seiner Seite gewünscht hätte, als jenes hirntote Gesindel, von dem er hier umgeben war.
Gestern hatte er mit dem Revierförster und Major Grämer, dem zweiten hellen Kopf der Kaserne, seinen monatlichen Skatabend gehabt. Grämer hatte sich beschwert über die Dummheit von Vorgesetzten wie Untergebenen, aber gleichzeitig die Behauptung aufgestellt, dass die Armee „als Wirtschaftsfaktor“ unverzichtbar sei. „Wieso?“, hatte der Förster gefragt. „Wir bräuchten doch in der Wirtschaft die Kapazitäten, die die Verteidigung schluckt, an allen Ecken und Enden mindestens genau so nötig!“ „Na stell' dir doch mal vor“, hatte Grämer geantwortet, „die ganzen Hohlköpfe, von denen wir umgeben sind, wären in der Wirtschaft eingesetzt. Eine einzige Katastrophe!“
Für solche Witze konnte man degradiert werden. Mindestens. Aber man war unter sich gewesen.
Vierzehn Tage war es nun her, dass er mit zehn Bausoldaten aus Rostock zurückgekehrt war. Die Männer hatten dort als Schauerleute gute Arbeit geleistet, weil er es verstanden hatte, sie zu motivieren. Ausgerechnet Hauptmann Feldbrett hatte man ihm als Politoffizier mitgegeben und dieser Dödel sah es als seine Genossenpflicht an, den schwer arbeitenden Leuten nach Feierabend noch Politunterricht erteilen zu müssen. Die Bausoldaten hatten sich beschwert. Er hatte daraufhin Feldbrett zum Rapport bestellt und sich dessen Unterrichtskonzept vorlegen lassen. Feldbrett hatte natürlich keines und als er nach einer Woche mit ein paar krakelig geschriebenen Seiten um die Ecke kam, hatte er, Major Wenigel, die Sachen nur ansehen brauchen, um Feldbrett derart abzukanzeln, dass der die restlichen Wochen damit zubrachte, in immer kürzeren Abständen immer neue Konzepte zu schreiben. Damit hatte Wenigel das Prinzip von Achilles und der Schildkröte einfach umgedreht. Die Bausoldaten hatten solange ihre Ruhe, arbeiteten ordentlich und fleißig und die ganze Truppe kehrte mit dem Sonderlob des Hafenmeisters nach Neuseddin zurück. Manchmal war es ein Vorteil, Leute von dem abzuhalten, was sie unter ihrer Arbeit verstanden.
Wenigel war aus Überzeugung bei der NVA. Ja, seiner Meinung nach tendierte der Kapitalismus zu Kriegen, um so seinen Profit steigern zu können. Und es war notwendig, dagegen bewaffneten Widerstand leisten zu können. Aber dazu brauchte es kluge und motivierte Männer und nicht diese Vielzahl von Arschgeigen, mit denen er derzeit seine Sicht auf das Leben zupflasterte. Er hoffte nur, dass der Gegner im Ernstfall auf vergleichbar dämliches Menschenmaterial zurückgreifen musste.
Indessen war der vorgesetzte Leutnant, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, auf die Baustelle zurückgekehrt und erklärte den verdutzten Bausoldaten nun das in Frage stehende Problem noch einmal. So, als ob die Fragestellung nicht an ihn herangetragen worden wäre, sondern als ob er diese soeben erst entdeckt habe. Mit großzügiger Geste entschied er alsdann so, wie es ihn Major Wenigel vor einer halben Stunde ins Ohr gebrüllt hatte: Bausoldat Kiefer habe heute aufgrund seiner, des vorgesetzten Leutnants, der ein militärisches Ingenieurstudium absolviert zu haben vorgab, Großzügigkeit nur 1,80 m Grabenlänge zu schaffen. Im Gegenzug erwarte er, dass man diese Geste durch gute Arbeitsleistung in den folgenden Wochen auch zu schätzen wisse.
Bausoldat Kiefer hob die Hand und bat demütig um Sprecherlaubnis, die ihm auch erteilt wurde. „Wie“, so wollte er wissen, „sollen wir aber fürderhin verfahren, wenn die Wurzel nicht wie heute am Ende der gesamten Tagesleistung, sondern vielmehr zwischen den Abschnitten zweier emsig wirkender Bausoldaten zu ziehen ist, und dann das heute von Ihnen vortrefflich gelöste Problem quasi beidseitig auftritt?“
Eine der auf dem märkischen Sand üppig gedeihenden Pina sylvestris, die die Szene als stumme Zeugen begleiteten, ließ eine harzige Nadel fallen, die sich an ihres verdolmetschten Namensvetters Brust heftete.